Wiltrud Wößner
Pieter Brueghels  "Bethlehemitischer Kindermord"

Bildinterpretation

vorgetragen am 15./16.06.1994
bei den Konzerten "Frieden und Krieg"
des Schweinfurter Kammerchores
unter der Leitung von Thomas Kerzel

Der letzte Programmpunkt dieses Abends ist Theodorakis' LITURGIE, gewidmet "den Kindern, getötet in Kriegen".

Bild 1: Picassos "Mutter mit totem Kind"
Wir haben sie noch in Erinnerung, die Mutter in wildem Schmerz aus Picassos Guernica.

Bild 2: Brueghel: Detail, winterliches Dorf
Und nun? Kommt nun die Idylle? Ein Winterbild eines Niederländers, aus stimmungsvollen Kunstpostkarten zur Weihnachtszeit bestens bekannt? Um Pieter Brueghel, oder "Bröchel" wie ihn die Flamen nennen, handelt es sich allerdings.

Bild 3: Brueghel: Gesamtbild (Gesamtabbildung bei www.kunstkopie.de)
Aber ein Winteridyll ist sein Gemälde "Bethlehemitischer Kindermord" gewiß nicht. Wir sehen hier zwar nur einen Teil des riesigen Gesamtbildes, das sich links unseres Ausschnitts mit roten Hausfassaden und ähnlichen Szenen fortsetzt. - Das Bild handelt genau wie Picassos Guernica von Gewalt, fürchterlicher Herrschergewalt; es handelt von Angst um die Macht, von Angst vor der Macht, von Todesangst, Tod und Totenklage. Die Geschichte vom Bethlehemitischen Kindermord steht im Matthäusevangelium; auf Befehl des Herodes sollten alle Kinder der Region Bethlehem, die 2 Jahre oder jünger waren, umgebracht werden.

Bild 4: Spanische Lanzenreiter
Brueghel verlegt das Geschehen in seine eigene Gegenwart; sein Bild ist Dokument und Anklage zugleich: Von 1567 bis 1573 herrscht der fürchterlichste aller spanischen Militärstatthalter, der Herzog von Alba, in den habsburgischen Niederlanden und überzieht auf Wunsch Philipps II. die Provinz mit gnadenloser Grausamkeit. Er ist es, portraitähnlich gemalt inmitten der spanischen Lanzenreiter, der die Gewalt und Macht vertritt. Brueghel benutzt keine Symbole wie Picasso; er klagt an in voller Öffentlichkeit, denn das Bild wurde gemalt zur Zeit der Statthalterschaft Albas.

Bild 5: Gruppe der Mörder
Zu Füßen und unter den Augen dieses Finsterlings obliegen spanische Soldaten dem systematischen Töten der Kinder, ganz geschäftsmäßig wird das abgewickelt, eins nach dem anderen. Ob das nun die Truppen des Herodes im Jahre 7 vor Christus sind oder die Truppen Albas 1567, die Soldaten Francos 1937, die SS-Schergen in jüdischen Gettos 1941/42, überall findet man dasselbe kalte, geschäftsmäßige Morden, dessen Perversität besonders offenbar wird, wenn es an Schwachen, Schutzbefohlenen, an Kindern erfolgt.

Bild 6: Gruppe vorne rechts
Und wie reagieren die flandrischen oder bethlehemitischen Bauern? Sie flehen, der Mann bietet seinen Hund zum Tausch an, er hat nichts anderes, aber die Soldaten interessiert das überhaupt nicht.

Bild 7: Gruppe um den Reichsherold
Eine andere Gruppe von Bauern läuft zum zivilen Vertreter des Reiches, er trägt das Wams des Reichsherolds; aber auch er hat nur eine hilflose Geste als Antwort.

Bild 8: Gruppe vorne links
Die Kinder selbst wissen kaum, was mit ihnen geschieht. Das Kerlchen in dem braunen Kittel schaut verschreckt zu seiner Mutter, die den Soldaten noch an der Schulter rüttelt, aber der hat das Kind fest am Arm und zieht bereits sein Schwert.

Bild 9: Mutter und Kind  (Abbildung auf dem Plattencover, 82 KB)
Inmitten des Getümmels sitzt diese Mutter. Sie hat ihr totes Kind ausgezogen; Kleider und Strümpfchen liegen im Schnee, sie wollte nachschauen, wie die Verwundung ist, aber ihre Schürze ist vom Blut durchtränkt, das Kind ist tot. Sie ist versteint und faltet krampfhaft ihre halb erhobenen Hände.

Bild 10: Zwei Frauen
Diese Geste der erhobenen, gefalteten Hände ist auch bei der Frau links zu sehen, auch sie hebt ihre Augen auf zum Himmel und weint ihren Schmerz hinaus. Warum läßt Gott das zu? fragen sie genau wie Millionen anderer Opfer von Gewalt. Schon vor 3000 Jahren stellte der Beter des 22. Psalms die Frage, die Jesus am Kreuz stellte. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts schweige ich auch nicht!"

Bild 11: Zwei Fässer
Am Ende des Terrors von Alba war aus dem blühendsten Gewerbegebiet Europas, das der spanischen Krone vorher sieben mal mehr an Steuern einbrachte als das Silber Amerikas, ausgepumptes, verwüstetes Land geworden; das galt für beide Teile, den romanischen Süden und den flämischen Norden. Vielleicht sind die beiden leeren Fässer und der abgestorbene Baum dafür Symbole.

Bild 12: Gesamtbild
So vermag Brueghels epische Malerei eine biblische Geschichte und niederländische Geschichte zu erzählen. Zeitlos ist, daß auch ohne ausdrücklichen Mordbefehl die Kinder in den Notzeiten, wie sie durch Kriege und Gewalt jeder Art erzeugt werden, am raschesten erliegen. Und die Lücke, die sie hinterlassen, tut sehr weh.

Ungefähr 600 Kindertotenlieder dichtete der trauernde Vater Friedrich Rückert; daraus ein Vierzeiler:

Du bist ein Schatten am Tage,
Und in der Nacht ein Licht,
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

 

© Wiltrud Wößner 1994

Kontakt zur Autorin über Thomas Kerzel, den damaligen Leiter des Schweinfurter Kammerchores
Lichtbildervortrag von Wiltrud Wößner über "Guernica" von Pablo Picasso
Homepage des Schweinfurter Kammerchores (wenn Sie nicht von dort gekommen sind),
auf dessen CD "Frieden und Krieg" sich der Diavortrag bezieht.

Im Herbst 2000 hat Wiltrud Wößner aus Anlaß der Eröffnung des Museums Georg Schäfer zwei Bilder von Carl Spitzweg interpretiert.